FEINE WORTE
Die Kunst der guten Rede
Die Kunst der guten Rede hat von jeher ihren Platz
im kulturellen Arsenal der europäischen Geistesgeschichte. Von Aristoteles (384-322) erstmals zu einer Theorie ausgearbeitet, galt die Rhetorik im europäischen Mittelalter als eine der Sieben Freien Künste. Sie wurde neben der Logik und Grammatik dem Trivium (Drei Wege) zugerechnet, während Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie das Quadrivium (Vier Wege) bildeten. Trivium und Quadrivium zusammen formten den wissenschaftlichen Kanon der mittelalterlichen Universität.
Diese Hochschätzung der Redekunst hat bis heute ihre Gültigkeit bewahrt. Sie gründet gewiss auch darin, dass wir nach wie vor aus dem religiösen Erbe der drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam schöpfen, die allesamt Religionen des Buches waren und sind: Was ist, wurde durch das Wort.
Unvergessliche Reden der Geschichte
Es verwundert daher nicht, wie sehr wir uns noch immer und immer wieder beeindrucken lassen von der guten Rede. Winston Churchills „Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede“, Martin Luther Kings „I have a dream“ oder Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sind dauerhaft eingeschrieben in unser geschichtliches Gedächtnis. Von mancher Rede bleibt nur ein einziges Wort, so etwa von der „Ruck-Rede“ des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog. Ganze Regentschaften ziehen sich auf einen unvergänglichen Satz zusammen, wie es uns Deutschen mit der berühmten Sentenz John F. Kennedys erging, der bei seinem Besuch der geteilten Hauptstadt Berlin am 26. Juni 1963 ein Versprechen abgab, das Mut, Hoffnung und die Kraft des Widerstands für Generationen begründete: „Ich bin ein Berliner.“
Das stets gefährdete Wort
Zweifelsohne gibt es aber auch die Schattenseite großer Rhetorik. Historia docet: Das Wort ist nicht davor gefeit, als zerstörerische Wort-Waffe missbraucht zu werden. Wer hörte nicht immer noch die hysterischen Hass- und Hetzreden Hitlers oder Stalins? Welches Unheil geht heute von islamistischen Hasspredigern aus, die das Wort für ihre Menschenfeindlichkeit und Mordlust missbrauchen?
Es sind die Dichterinnen und die Dichter, die um den Segen und Fluch des Wortes wissen und sich um seine hohe Würde sorgen: „Wer holt es zurück, das eben noch unausgesprochene Wort?“, fragt Hilde Domin und mahnt zur Achtsamkeit im Umgang mit dem ebenso kostbaren wie zerbrechlichen Gut der Sprache.
Delectare et prodesse
Die gute Rede ist eine hohe Kunst. Wer sie beherrscht, hat einen unschätzbaren Zugang zu den Menschen. Immer geht es dabei darum, Herz und Kopf der Zuhörenden zugleich zu erreichen. Die klassische Formel hierfür stammt von Horaz (65-8): delectare et prodesse - erfreuen und nützen. Gelingt beides, so ist die gute Rede am Ziel.